TITEL

Tarifrunde Chemie

Tragfähige
Lösung

Foto: Frank Rogner

In der zweiten Runde der Chemie-Tarifverhandlungen konnten sich IGBCE und der Arbeitgeberverband auf ein Zwischenergebnis verständigen. Die Tarifbeschäftigten der Branche erhalten eine einmalige Brückenzahlung. Im Herbst wird weiter verhandelt.

Die Erleichterung war IGBCE-Verhandlungsführer Ralf Sikorski anzumerken, als er am Vormittag des 5. Aprils vor die Bundestarifkommission trat. Bis tief in die Nacht hatten IGBCE und BAVC zuvor in kleiner Runde miteinander gerungen, um für die 580 000 Tarifbeschäftig­ten der Chemie-Branche eine finanzielle Brücke zu bauen, die die explodierenden Energiepreise und hohen Teuerungsraten ausgleicht und zugleich die Unternehmen in dieser schwierigen Lage nicht überfordert.

Tarifparteien finden Brückenlösung bis in den Herbst

Am frühen Dienstagmorgen schließlich einigten sich die Sozialpartner auf ein verantwortungsvolles Zwischenergebnis, das den Anforderungen gerecht wurde.

»Vielleicht sieht man es unseren Gesichtern an, auch wir hätten einen Nachtzuschlag verdient«, sagte Sikorski am Morgen nach den zähen nächtlichen Verhandlungen. Die IGBCE habe bereits nach dem russischen Angriff auf die Ukraine der Arbeitgeberseite das Angebot einer Brücke unterbreitet, da man sich nach Kriegsausbruch der Komplexität der Situation bewusst gewesen sei. Doch die erste Verhandlungsrunde in Hannover Ende März wurde dennoch ergebnislos vertagt. »Es hat ein bisschen gedauert, bis beide Seiten mit Begeisterung auf diese Brücke gehen wollten«, so Sikorski. Letztendlich habe man in der zweiten Runde aber eine tragfähige Lösung gefunden. »Uns war auf beiden Seiten relativ schnell klar, dass wir in dieser unsicheren Lage zu einem vernünftigen und rationalen Ergebnis kommen müssen.« Sikorski betonte, dass es sich um ein »Zwischenergebnis« handele. »Wir haben diese Tarifrunde hier nicht abgeschlossen, sondern Teilergebnisse definiert.« Im Oktober werde man die Tarifverhandlungen mit einer dritten Runde fortsetzen.

»In dieser Zeit großer Unsicherheit für Beschäftigte wie Unternehmen mussten wir eine Lösung finden, die Inflationslinderung mit Beschäftigungssicherung verbindet«, kommentierte IGBCE-Chef Michael Vassiliadis die Brückenlösung. »Mit diesem Kompromiss werden die Beschäftigten sofort entlastet und die wirtschaftliche Entwicklung engmaschig bewertet. Unser Ziel bleibt die dauerhafte Steigerung der Entgelte noch in diesem Jahr.« Von der Brückenzahlung würden niedrigere Lohngruppen überdurchschnittlich profitieren – und das sei auch das Ziel gewesen. »Sie sind es, die besonders unter den aktuellen Preisschüben leiden.« Das erklärte auch IGBCE-Verhandlungsführer Ralf Sikorski: »Die unteren Lohngruppen spüren die Preisentwicklung am heftigsten. Wir wollten, dass diejenigen, die weniger im Portemonnaie haben, prozentual mehr bekommen.«

Sikorski sagte zudem, dass es ein »langer, beschwerlicher Weg« gewesen sei, die Arbeitgeber auf die angebotene »Brücke über das Tal der wirtschaftlichen Unsicherheit« mitzunehmen. »Diese Zwischenlösung ist alles andere als unsere Wunschvorstellung. Aber sie gibt uns die nötige Atempause, um die geopolitischen und wirtschaftlichen Entwicklungen der kommenden Monate abzuwarten und diese Tarifrunde auf Basis einer dann hoffentlich klareren Datenlage im Herbst fortzusetzen.« Bei der dann dritten Verhandlungsrunde im Oktober strebe man eine »nachhaltige Entgeltsteigerung« an.

IGBCE-Chef Michael Vassiliadis hob ebenfalls die Sondersituation hervor: »Ein solches Umfeld für eine Tarifrunde hatten wir noch nie.« Angesichts der explodierenden Energiekosten, der hohen Teuerungsraten und der weiteren Verschärfung der Situation durch die Ukraine-Krise hätte man nahezu stündlich prüfen müssen, »ob sich an den Bedingungen etwas geändert habe«. Das Zwischenergebnis beweise allerdings, dass die IGBCE nicht nur in der Lage sei, die Realität anzuerkennen, sondern sie auch zu verarbeiten.

Nach intensiven zweitägigen Verhandlungen konnten sich IGBCE und Arbeitgeber auf ein
Zwischenergebnis verständigen.

Fotos (2): Andreas Reeg

Die rund 100 Mitglieder der Bundestarifkommission reagierten positiv auf das ausgehandelte Zwischenergebnis: Sie nahmen die Lösung einstimmig an.

Monika Kraus, Mitglied der Bundes-tarifkommission und Betriebsrätin bei Siemens Healthcare Diagnostics Products, in Marburg, erklärte: »Dieses Zwischenergebnis ist ein Hammer. Die Mitarbeiter haben ihren Anteil an den teils sehr guten Umsätzen der Branche verdient. Ich bin hochzufrieden.« Die Übergangslösung sei um so höher einzuschätzen, da die Arbeitgeberseite »immer wieder bei null« angefangen habe. »Es ist toll, wie unsere Tarifkommission die Arbeitgeber immer wieder ins Boot geholt hat.«

Auch Tarifkommissionsmitglied Marianne Mähl, Vize-Betriebsratsvorsitzende am Bayer-Standort Frankfurt/Höchst, sagte: »Ich bin überrascht, wie gut das Zwischenergebnis ausgefallen ist. Nach der Blockiererei der Arbeitgeberseite hatte ich nicht erwartet, dass überhaupt eine Lösung gefunden werden kann – und dann noch so eine gute.«

Axel Hofmann, Betriebsrat bei Abbvie am Standort Ludwigshafen, freute sich ebenfalls über das »sehr gute Zwischenergebnis. Es war nicht abzusehen, dass wir überhaupt eine Lösung hinkriegen«. Diese sei angesichts der wirtschaftlichen Gesamtlage und der Ukraine-Krise »um so höher zu bewerten«. Ähnlich äußerte sich Stefan Kesser, Betriebsratsvorsitzender bei Infraserv Technik in Wiesbaden: »Ich finde es super, dass 1400 Euro für unsere Kollegen ausgehandelt werden konnten. Das hätte ich so nicht vermutet. Um so zufriedener bin ich jetzt.«

»Es hat ein bisschen gedauert, bis beide Seiten mit Begeisterung auf diese Brücke gehen wollten.«

Ralf Sikorski
stellvertretender Vorsitzender und Verhandlungsführer der IGBCE

Die Lösung sieht folgendermaßen aus:

Die Tarifbeschäftigten in der chemisch-pharmazeutischen Industrie erhalten spätestens im Mai eine Brückenzahlung in Höhe von einmalig 1400 Euro pro Kopf. Für Teilzeitbeschäftigte gibt es eine anteilige Zahlung. In wirtschaftlich angeschlagenen Betrieben kann die Brückenzahlung auf 1000 Euro reduziert werden. Die Bedingungen dafür sind genau definiert. Auszubildende erhalten 500 Euro pro Kopf.

Die Zwischenlösung überbrückt den Zeitraum von sieben Monaten bis Oktober – dann sollen die Tarifverhandlungen fortgesetzt werden, um zu klären, inwieweit die kurzfristig gegen die ausufernde Inflation wirkende Entlastung in eine nachhaltige, tabellenwirksame Entgelterhöhung überführt werden kann. Da die Sonderregelungen für steuerfreie Corona-Boni zum 31. März ausgelaufen ist, muss der Brückenzuschlag regulär versteuert werden.

X Pressestimmen zur zwischenlösung

Wirtschaftswoche

»Der jetzt vereinbarte Deal für die 580 000 Beschäftigten der Chemie-industrie ist nicht nur volkswirtschaftlich verantwortungsbewusst. Er ist auch ein Sieg der Tarifautonomie, der zeigt, dass Gewerkschaften und Arbeitgeber den Staat nicht brauchen, wenn es ökonomisch brenzlig wird. «

Süddeutsche Zeitung

» Wegweisender Abschluss in Zeiten von Krieg und Inflation. «

Hannoversche Allgemeine Zeitung

» Beide Seiten sind zum Glück pragmatisch genug,
um sich gegenseitig nicht zu überfordern. «

Stuttgarter Zeitung

» Zusammenhalten ist daher das Gebot der Stunde, um auch diese schwierige Phase zu überwinden. Da ist es gut, wenn die Tarifparteien zumindest bis zum Herbst verantwortungsbewusst vorangehen. «

Die Rheinpfalz

» In schwierigen Zeiten sind die Chemie-Tarifparteien in beispielhafter
Weise ihrer Verantwortung gerecht geworden. «

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Hilfe für Ukraine: Michael Vassiliadis (links) und BAVC-Präsident Kai Beckmann.

Foto: Andreas Reeg

Die Sozialpartner konnten sich zudem auf folgende weitere Punkte einigen:

Der Schichtzuschlag für regelmäßige Nachtschichten wird zum 1. Juli auf 20 Prozent angehoben. Das entspricht einem Lohnplus von 1,7 Prozent für die betroffenen Beschäftigten. Bislang haben die meisten Schichtarbeitnehmer*innen einen regelmäßigen Nachtzuschlag von 15 Prozent bekommen. In manchen Unternehmen liegt der Wert höher, etwa bei 25 Prozent – weil dort der Betriebsrat bessere Regelungen vereinbaren konnte. Diese Regelungen haben auch weiterhin Bestand.

Mit dem Förderprogramm »AusbildungPlus« soll die Ausbildung in kleinen und mittleren Unternehmen gestärkt und pandemiebedingte Defizite der Ausbildungs- und Prüfungsjahrgänge 2022 und 2023 ausgeglichen werden. Es werden drei Millionen Euro zur Verfügung gestellt, um zusätzliche Lernunterstützung und Hilfe bei der Prüfungsvorbereitung zu bieten.

Beim Punkt mobiles Arbeiten einigten sich IGBCE und BAVC darauf, die Auswirkungen des mobilen Arbeitens in einer Studie wissenschaftlich untersuchen zu lassen. Ergebnisse sollen im Laufe des Jahres 2023 vorliegen, dann wird darüber gesprochen, ob möglicherweise tarifpolitische Maßnahmen etwa bei Arbeitsorganisation und Arbeitsschutz notwendig sind.

Als klares Signal der Solidarität mit den Menschen aus der Ukraine verabredeten die Sozialpartner eine Spende des Unterstützungsvereins der chemischen Industrie (UCI) in Höhe von einer Million Euro. Damit soll die Initiative von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil unterstützt werden, Qualifikationen von Geflüchteten aus der Ukraine schneller anzuerkennen und verstärkt Sprachkurse anzubieten.

Isabel Niesmann/Inken Hägermann

X Das Sozialpartnermodell — Was ist das?

Bis zur Jahresmitte soll der Tarifvertrag für die chemische Industrie zur Einführung des sogenannten Sozialpartnermodells stehen. Darauf haben sich IGBCE und Arbeitgeber in den Verhandlungen geeinigt. Ein Eckpunktepapier gibt es bereits.

Das Sozialpartnermodell soll die betriebliche Altersvorsorge durch erweiterte Kapitalanlageformen, durch mehr Mitsprache und Aufsicht der Sozialpartner sowie durch einen zusätzlichen Sicherungsbeitrag der Arbeitgeber attraktiver und zukunftsfest machen. Notwendig geworden ist das, weil die Ausgangslage für die betriebliche Altersvorsoge schwierig ist: Die Renditen klassischer Produkte, wie Lebensversicherungen sinken wegen der Niedrigzinsen weiter. Und durch die Reduzierung des Höchstrechnungszinses auf 0,25 Prozent ist eine Beitragsgarantie praktisch nicht mehr möglich.

Bei dem neuen Modell entfällt die Beitragsgarantie und die Arbeitgeber werden dadurch von Haftungsrisiken entlastet. Als Ausgleich wird ein Sicherungsbeitrag der Arbeitgeber vereinbart, der zusätzlich zur Chemietarifförderung zu leisten ist. Durch den Verzicht auf Garantien kann das angesparte Kapital breiter, zum Beispiel auch in Aktien, angelegt werden. Es hat dadurch — vor allem auf lange Sicht — deutlich bessere Chancen auf höhere Wertsteigerungen, unterliegt aber auch einem Schwankungsrisiko. Zum Ausgleich des Risikos wird ein Beitragspuffer aus dem Sicherungsbeitrag der Arbeitgeber gebildet. Dieser wird zur Vermeidung beziehungsweise zur Reduzierung von möglichen Rentenkürzungen eingesetzt. Neben dem Entgeltumwandlungsgrundbetrag (478,57 Euro) und der Chemietarifförderung I (134,98 Euro) zahlt der Arbeitgeber für Entgeltumwandlungsbeträge des Arbeitnehmers einen Förderbetrag von 15 Prozent aus den eingesparten Sozialversicherungsbeiträgen.

Umgesetzt wird das Modell über den Chemiepensionsfonds. Partner ist die R+V Versicherung. Es soll bis Ende des Jahres für Neuzugänge bereitstehen.

Eingeführt wurde das Sozialpartnermodell bereits 2018 per Gesetz im Rahmen der Stärkung der Betriebsrenten. Es ist die jüngste Form der betrieblichen Altersvorsorge und wird nach der ehemaligen Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles auch Nahles-Rente genannt. In der Chemieindustrie wird es nun erstmals auf Branchenebene eingeführt. Durch entsprechende Tarifverträge können auch Unternehmen außerhalb des Geltungsbereichs des Chemietarifvertrages in den Chemiepensionsfonds aufgenommen werden.

BESCHÄFTIGTE HABEN MIT TARIFAKTIONEN AUF SICH AUF  MERKSAM GEMACHT

Ob Fahrrad-Demo, politische Mittagspause oder Tarifaktion — in zahlreichen Betrieben in ganz Deutschland beteiligten sich die Beschäftigten der chemisch-pharmazeutischen Industrie an der Aktionswoche vor der zweiten Verhandlungsrunde in Wiesbaden. Damit haben sie den Druck auf die Arbeitgeber erhöht und gezeigt, dass sie hinter den Forderungen der IGBCE stehen.

Menschenkette auf der Leuna-Brücke

Bezirk Südniedersachsen | Rund 100 Menschen haben sich vor dem Werktor bei ContiTech in Northeim versammelt, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen.

Foto: Kai-Uwe Knoth

Bezirk Kassel | Bei B. Braun in Melsungen haben die Beschäftigten ein grofles X geformt. Eine Drohne hat die Aktion festgehalten.

Foto: IGBCE

Bezirk Hamburg | Jugendaktion zur Chemie-Tarifrunde bei Aurubis.

Foto: IGBCE

Bezirk Niederrhein | Auch der Bezirksfrauenausschuss Niederrhein steht hinter den Forderungen.

Foto: Marvin Kuenen

Bezirk Stuttgart | Etwa 90 Teilnehmer*innen kamen zum Tariffrühstück bei Sun Chemical in Besigheim. Irmtraud Schneele-Schultheiss, Mitglied der Bundestarifkommission berichtet von der Tarifrunde.

Foto: Benjamin Schubert

Bezirk Mannheim | Bei ICL Ladenburg veranstalteten die Beschäftigten eine Nachtschichtaktion.

Foto: Max Nothaft

bezirk Hamburg | Die Jugend demonstrierte für mehr Ausbildungsplätze.

Foto: IGBCE Hamburg

bezirk Recklinghausen | Rund 50 Kolleg*innen kamen zur Fahrraddemo am Chemiepark Marl.

Foto: Alexander Nolte

bezirk Rhein-Main | Etwa 300 Chemie-Beschäftigte bildeten eine Menschenkette über die Leuna-Brücke in Frankfurt Höchst.

Foto: Andreas Reeg

bezirk freiburg | IGBCE-Landesbezirksleiterin Catharina Clay sprach in der Mittagspause vor der Cerdia-Belegschaft.

Foto: Veli Köksal

Bezirk Hannover | Tarifaktion der Azubis bei Albemarle.

Foto: Anja Görlach

bezirk Dresden-Chemnitz | Tarifaktion der Vertrauensleute bei Wacker Chemie in Nünchritz.

Foto: IGBCE