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»Ein Gasembargo gegen Russland wäre das falsche Mittel«

Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine stellt Gesellschaft und Wirtschaft vor große Herausforderungen. Explodierende Energiepreise, vor allem aber ein sofortiges Gasembargo, würden die energieintensiven Branchen der IGBCE besonders hart treffen.

IGBCE-Chef Michael Vassiliadis spricht im Interview über mögliche Auswirkungen auf Wertschöpfungsketten und hunderttausende gut bezahlte Industriearbeitsplätze und zeigt Optionen auf, um uns unabhängiger von russischem Gas zu machen.

Michael, der Krieg in der Ukraine dauert an, Russland verschärft seine Angriffe. Immer lauter wird ein Gasembargo diskutiert, um den Druck auf Wladimir Putin zu erhöhen. Du sprichst dich klar dagegen aus. Warum?

Eines vorneweg: Dieser russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist verabscheuungswürdig und es wird Völkerrecht von Russland gebrochen. Es müssen alle tragfähigen und verantwortbaren Anstrengungen unternommen werden, um Wladimir Putin und seine Armee zu stoppen. Ein Gasembargo allerdings wäre das falsche Mittel. Zum einen versorgt sich die russische Militärmaschinerie innerhalb der Rubel-Ökonomie weitgehend autark und wäre von einem Lieferstopp nur wenig betroffen. Treffen würde es vielmehr die Zivilbevölkerung. Auf der anderen Seite gehört Deutschland – neben vielen anderen europäischen Nationen – zu den Ländern, die viel Erdgas aus Russland beziehen und aktuell noch darauf angewiesen sind. Würden wir den Einkauf von Gas aus Russland sofort stoppen, wäre eine schwere Wirtschaftskrise in Deutschland und Europa die Folge, ebenso wie eine weitere Schädigung der ohnehin angespannten industriellen Fertigungsketten.

Manche Experten behaupten, Deutschland könne auch ohne russisches Gas auskommen.

Ja, in der abstrakten volkswirtschaftlichen Theorie geht vieles auf. Im Durchschnitt sind auch alle Deutschen reich. In der Praxis ist das viel zu kurz gegriffen: Die Versorgung der Endverbraucher wäre erst zeitverzögert betroffen. Aber unsere deutsche Industrie steht für mehr als ein Drittel des Gasverbrauchs, sie wäre als erste gezwungen, ihre Anlagen abzuschalten. Der wirtschaftliche Schaden wäre enorm, die Langzeitfolgen auch in der Versorgung schwer. Mehr als 90 Prozent aller Industrieerzeugnisse benötigen Chemieprodukte.

Kannst du das genauer erläutern?

Die Grundstoffindustrie als größte Gasverbraucherin im Land beispielsweise ist quasi die Mutter nahezu aller industriellen Produkte. Ihre Vorprodukte werden in weiteren Fertigungsstufen zu Medikamenten, Bau- und Kunststoffen, Dünger, Textilien oder Fahrzeugen weiterverarbeitet. Die Anlagen dieses Segments müssen zu mindestens 50 Prozent ausgelastet sein, sonst funktioniert der Prozess nicht und die Produktion schaltet automatisch ab. Oder die Glasindustrie: Die Glasschmelzwannen brauchen eine Betriebstemperatur von 1200 Grad – härten die einmal wegen zu niedriger Temperaturen aus, sind sie hinüber und man kann die Anlage wegschmeißen. Investition in neue Anlagen am selben Standort – also in Deutschland – sind angesichts des ohnehin enorm hohen Energiepreisniveaus im Land sehr unwahrscheinlich. Letztlich hängt sogar ein Teil der Lebensmittelproduktion davon ab. Diese ist der zweitgrößte Gasverbraucher in Deutschland. Die Produktion von Milch, Zucker, Fleisch und vielem mehr hängt daran. Es wäre also nicht nur die gesamte industrielle Wertschöpfungskette bedroht, sondern außerdem noch hunderttausende gut bezahlte Arbeitsplätze. Ein sofortiges Gasembargo würde den sozialen Frieden gefährden. Das sagt sogar der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck.

Wie könnte eine Lösung aussehen?

Ein wichtiger Schritt wäre, Erdgas als Wärmequelle durch Wasserstoff zu ersetzen, der mit Ökostrom produziert würde. Dafür bedarf es allerdings gewaltiger Kapazitäten. Es gibt bereits erste Projekte, BASF und RWE planen zum Beispiel für die Versorgung des Standorts Ludwigshafen einen riesigen Windpark auf hoher See. Laut den Planungen wird der aber frühestens in den 2030er-Jahren betriebsbereit sein.

Foto: Kai-Uwe Knoth

Das ist noch lange hin.

Wir predigen seit Jahren, dass der Ausbau der regenerativen Energien schneller vorankommen muss, damit die Transformation der Industrie zu einer klimaschonenden Produktion auch funktioniert. Leider fehlte der politische Masterplan für den radikalen Ausbau der Erneuerbaren und der Netze. Denn die Herausforderungen sind gewaltig: Allein die Chemieindustrie wird nach ihrer Transformation so viel Ökostrom benötigen, wie heute das ganze Land über alle Energieträger verbraucht. In der Zwischenzeit müssen wir alle Energiequellen ausnutzen, die wir zur Verfügung haben.

Sollten die deutschen Atomkraftwerke, die noch am Netz sind, länger laufen als geplant?

Unsere Fachleute gehen davon aus, dass sich der Verlust dieser allzeit verfügbaren Stromquellen vorübergehend über die Kohlekapazitäten auffangen ließe, falls uns das Gas fehlen sollte. Damit ist es unter den aktuellen Gegebenheiten aber sehr unrealistisch, dass wir zusätzlich auch noch bis 2030 aus der Kohle aussteigen. Das wäre schlichtweg ökonomischer Wahnsinn.

Gibt es weitere Optionen, um uns unabhängiger von russischem Gas zu machen?

In Norddeutschland liegt so viel Gas unter der Erde, dass man damit für rund zehn Jahre etwa ein Fünftel des deutschen Bedarfs bedienen könnte. Allerdings geht das nicht ohne Fracking. Das ist heftig umstritten im Land, das ist mir klar. Aber wir müssen uns ernsthaft fragen, ob es sinnvoll und logisch ist, statt-dessen Fracking-Gas aus den USA zu importieren. Hierzulande würde der Einsatz von Fracking zu deutlich umweltfreundlicheren Bedingungen erfolgen.

Der Ukraine-Krieg hat zudem die Energiepreisspirale noch mehr angeheizt.

Das ist richtig, viele Betriebe hatten schon vorher mit den hohen Preisen zu kämpfen. Damit die deutsche Industrie – und damit meine ich nicht nur Großkonzerne, sondern auch den Mittelstand, der eine wichtige Rolle spielt – international wettbewerbsfähig bleiben kann und Industriearbeitsplätze gesichert werden, brauchen wir dringend eine Preisobergrenze für Strom und Gas.

Mit Blick auf die wirtschaftlich volatile Situation hat die IGBCE mit den Chemie-Arbeitgebern in der aktuellen Tarifrunde eine Brücke in den Herbst gebaut.

Als IGBCE haben wir gewohnt pragmatisch und zielorientiert reagiert. Auf der einen Seite haben die Chemie-Unternehmen teils Rekordgewinne für 2021 vermeldet, auf der anderen Seite weiß niemand, wie sich die Wirtschaft angesichts des Krieges weiterentwickelt. Deshalb haben wir uns auf ein Zwischenergebnis geeinigt, das unsere Beschäftigten entlastet und die Betriebe nicht überfordert: So gibt es für unsere Kolleginnen und Kollegen unter anderem eine Einmalzahlung, die die hohen Teuerungsraten und die explodierenden Energiekosten ausgleicht. Im Herbst, wenn das Bild etwas klarer sein dürfte, werden die Tarifverhandlungen fortgesetzt. Dann klären wir, inwieweit die kurzfristig gegen die Inflation wirkende Entlastung in eine nachhaltige, tabellen­wirksame Entgelterhöhung überführt werden kann. In dieser Zeit großer Unsicherheit für Beschäftigte wie Unternehmen mussten wir eine Lösung finden, die die Inflationslinderung mit Beschäftigungssicherung verbindet.

Interview: Inken Hägermann