»Ich bin von Herzen dankbar«
Bochum | 60 Jahre August-Schmidt-Stiftung: Geförderte Waisen erzählen ihre Geschichten. Unterstützung in der Not.
Am Anfang stand ein schreckliches Unglück: Im Februar 1962 waren bei einem der schwersten Grubenunglücke in der Geschichte der Bundesrepublik auf der Schachtanlage Luisenthal 299 Bergleute ums Leben gekommen. Sie hinterließen 365 Halbwaisen, denen nun der Vater und meist auch der Versorger fehlte. Um ihnen zu helfen, gründete die IG Bergbau und Energie vor 60 Jahren, am 25. April 1962, die August-Schmidt-Stiftung.
Mehr als 3700 Kinder von verstorbenen Beschäftigten aus den IGBCE-Branchen hat die Stiftung seither unterstützt, aktuell erhalten rund 30 Hinterbliebene eine Förderung für ihre Aus- und Weiterbildung. Im Durchschnitt bekommen sie 360 Euro pro Person.
60 Jahre August-Schmidt-Stiftung
Handwerker im Herzen
Manchmal rollt Henri Herr den 30 Meter langen Feuerwehrschlauch zu Hause aus. »Einfach, weil ich ihn schön finde«, sagt der 13-Jährige. Der Feuerwehrschlauch verbindet ihn mit seinem Vater Günter Jacob, der vor sieben Jahren verunglückte. Morgens um 5:20 Uhr, im Dunklen auf dem Weg zur Arbeit, erfasste ihn ein Auto. Feuerwehrmann war Günter Jacob im Ehrenamt, beruflich Kontrolleur in der Glasherstellung, Mitglied der IGBCE und Handwerker im Herzen.
»Wenn ich in meine Werkstatt gehe, komme ich in einen Keller voller Erinnerungen«, sagt sein Sohn Henri. Das handwerkliche Talent hat er von seinem Vater geerbt. Er lötet, sägt, bohrt und fräst mit Leidenschaft. Sein liebstes Projekt bisher: ein Trinkspender mit einer Pumpe. Henri ist nicht der Typ, der sich selbst loben würde. Aber in dem Fall muss er es einfach mal sagen: »Der sieht richtig gut aus.« Ob sein Vater stolz auf ihn wäre? »Ich hoffe es«, sagt Henri. »Und ich glaube es.«
Eine harte Zeit liegt hinter Henri und seiner Mutter. Das Homeschooling während der Pandemie brachte die beiden oft an ihre Grenzen. »Die Schüler wurden weiter benotet, aber nicht betreut beim Lernen«, so Sabine Herr. Als alleinerziehende, berufstätige Mutter hätte sie nicht gewusst, wie sie ihren Sohn unterstützen sollte, gäbe es nicht die August-Schmidt-Stiftung. Mit der Förderung konnte Henri drei Mal in der Woche Einzelcoaching von der Schülerhilfe bekommen, den Lernstoff durcharbeiten und alle Fragen stellen. Für den Online-Unterricht ist er mit einem professionellen Mikrofon jetzt gut ausgestattet. Die Förderung macht es möglich, dass die Familie solche Ausgaben wuppen kann, ohne auf Urlaub oder das BMX-Rad für Henri verzichten zu müssen.
»Meine Mutter und ich sind ein gutes Team«, sagt der Achtklässler. Manchmal denkt er, dass er ein bisschen ernster ist als andere in seinem Alter. »Ich kann witzig sein«, erzählt er. Aber manchmal kann er nicht darüber lachen, wenn die anderen überdreht sind. Für die Zukunft kann er sich eine Menge vorstellen: Vielleicht geht es in eine handwerkliche Richtung, zum Rettungsdienst oder zur Feuerwehr. Die August-Schmidt-Stiftung wird Henri dabei begleiten.
Von Gladbeck nach Malaysia
»Ich bin ein Mensch, der gerne neue Wege geht«, sagt Koray Özmen. Bis nach Malaysia hat sein Weg den 28-Jährigen schon geführt. Ohne die Unterstützung der August-Schmidt-Stiftung wäre ein Auslandssemester für ihn unerreichbar gewesen, sagt er.
Koray Özmen wurde 1994 als Bergmannsohn geboren. Er wuchs in zwei Kulturen auf, der deutschen und der türkischen. Als er vier Jahre alt war, verunglückte sein Vater in der Zeche Hugo in Gelsenkirchen tödlich. »Mein Vater ist unter Tage an Gas erstickt«, berichtet er. Für den damals Vierjährigen begann eine harte Zeit. »Meine Mutter konnte nicht gut Deutsch«, erzählt Koray Özmen. »Ich musste mir die Sprache allein beibringen.« Das sei ihm nicht leicht- gefallen: »Ich bin eher der naturwissenschaftliche Typ.« Doch Koray Özmen kämpfte sich durch, unterstützt von der August-Schmidt-Stiftung: Bis zum Abitur und zum Maschinenbau-Studium. »Ich konnte mich mithilfe der Stiftung auf das Studium fokussieren und musste keinen Nebenjob wahrnehmen. Dafür bin ich von Herzen dankbar.«
Die Förderung machte es ihm möglich, bei zwei Auslandssemestern seine interkulturellen Kompetenzen zu erweitern. Er knüpfte ein Netzwerk von Kollegen, das bis nach Taiwan und Brasilien reicht. Mit vielen ist er heute noch in Kontakt. Auf die Idee, in Malaysia zu studieren, ist er durch seine Leidenschaft für das Wandern gekommen. »Ich bin ein Naturmensch«, sagt der Gladbecker. Dann das Kontrastprogramm in Istanbul: Studieren in einer 15-Millionen-Metropole, die kulturellen Wurzeln seiner Eltern besser kennenlernen. Die Gastfreundschaft, die er erfahren hatte, gab er später an junge Leute weiter, die nach Deutschland kamen: Er engagierte sich als »Buddy«, als Alltagsbegleiter und Ansprechpartner für ausländische Studierende.
Jetzt begibt sich Koray Özmen wieder auf neue Wege: Er hat sein Praktikum bei Audi in Ingolstadt beendet und zieht um nach München, um bei BMW seine Masterarbeit zu schreiben. Die Förderung der August-Schmidt-Stiftung ist ausgelaufen, als er das 28. Lebensjahr erreicht hat. Jetzt steht er auf eigenen Füßen. In der Autoindustrie sieht er seine berufliche Zukunft, als Projektmanager oder Produktionsplaner vielleicht. »Ich kann mich kaum an meinen Vater erinnern«, sagt er. »Aber ich denke, er wäre stolz auf das, was ich geschafft habe.«
»Was man sich wünscht, muss man machen«
Abends, wenn die Kinder im Bett sind, bastelt Reyhan Tanta viel. »Das ist für mich eine Art Therapie«, erklärt die 37-Jährige. Zurzeit arbeitet sie an einem Album über ihren Mann Gökhan, der 2020 starb. »Dann kann ich den Kindern mit Stolz zeigen, wer ihr Vater war«, sagt sie. Sein jüngster Sohn war erst neun Monate alt, als Gökhan Tanta, Mitarbeiter und Betriebsrat bei Play-mobil, verunglückte. Auf dem Weg von Hof an der Saale, wo die Familie wohnt, zum Betriebsräte-Treffen nach Nürnberg geriet er auf der Autobahn in eine Massenkarambolage.
»Es ist, als hätte er geahnt, dass er nicht alt werden würde«, erzählt seine Frau. Weil die älteste Tochter schwer behindert ist, war die Familie schon oft in Krankenhäusern. Sie haben offen über den Tod gesprochen, das muslimische Gräberfeld in Hof besucht. »Hier möchte ich einmal begraben sein«, sagte Gökhan Tanta dann. Den Wunsch hat ihm seine Frau erfüllt. »Es waren tausend Leute bei der Beerdigung. Die Kollegen bei Playmobil bekamen frei dafür«, berichtet Reyhan Tanta. Zu Hause hatte ihr Mann kaum von seinem gewerkschaftlichen Engagement erzählt. »Es tat gut zu sehen, wie bekannt und beliebt er war. Ich habe tolle Sachen über meinen Mann gehört. Das hat mich bekräftigt und motiviert, weiterzumachen.«
Eine große Hilfe ist für sie auch die Förderung der August-Schmidt-Stiftung. »Ein Kollege meines Mannes hat den Kontakt hergestellt und uns die Telefonnummer gegeben«, erzählt die junge Witwe. »Mit dem Geld kann ich den Kindern kaufen, was sie sich wünschen, und etwas unternehmen, wo sie Spaß haben.« Sie hat gelernt, dass das Leben sofort beendet sein kann. »Deswegen muss man das, was man sich wünscht, jetzt gleich machen.« Wenn Reyhan Tanta erfährt, dass die Krankenkasse die Kosten für einen Therapiestuhl oder andere Hilfsmittel für ihre achtjährige Tochter nicht übernimmt, dann ist das kein so großer Schock für sie. Denn die Förderung gibt Sicherheit. Einen Teil davon spart sie für den gemeinsamen Traum der Familie: ein barrierefreies Einfamilienhaus mit Platz zum Toben für die beiden kleinen Jungs. »Mein Mann wollte das immer«, sagt sie. »Aber in seinem Leben hat es nicht geklappt.«
Neulich, als sie vom Grab des Vaters kamen, sagte der vierjährige Sohn: »Papa soll endlich nach Hause kommen.« Für seine Mutter war das ein harter Schlag. Doch sie hat ihm ehrlich geantwortet. Bei ihrem Psychologen holt sie sich Tipps, wie sie mit den Kindern über den Tod sprechen kann. Der Therapeut versichert ihr: »Sie schaffen das.« Reyhan Tanta weiß, dass sie gut für sich selbst sorgen muss: »Ich muss gesund bleiben. Die Kinder haben ja nur ein Elternteil.«
Anne Beelte-Altwig
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